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Erfolgsträchtige kreative Energie erfordert die kontrollierte Anwendung gebändigten Wahnsinns. Davon bin ich überzeugt.
Erasmus,
Die Wandlungsfähigkeit organischer Formen
Nach einem ganzen Tag des Trainings mit seinem treuen menschlichen Schützling stand Erasmus im Hauptgeschoss seiner Villa allein im Spiegelkorridor. Obwohl er unfreiwillig auf Corrin festsaß, ungeachtet der Tatsache, dass das Schicksal von Omnius und aller Denkmaschinen im Ungewissen lag, hatte Erasmus nach wie vor großen Wissensdurst hinsichtlich esoterischer Angelegenheiten.
Mit gespannter Aufmerksamkeit beobachtete er das Spiegelbild seines Flussmetall-Gesichts und die Vielfalt menschlicher Gesichtsausdrücke, die er damit nachzuahmen vermochte: Frohsinn, Trauer, Zorn, Überraschung und vieles weitere. Gilbertus hatte ihn sorgsam im gesamten Repertoire unterwiesen. Besonders gerne zog Erasmus so genannte erschreckende Fratzen, die Furcht erzeugten, eine Emotion, die auf der physischen Schwäche und Vergänglichkeit der Menschen beruhte.
Könnte Erasmus nur die feinen Eigentümlichkeiten besser durchschauen, in denen die Menschen den Denkmaschinen überlegen waren, wäre er dazu fähig, die jeweils besten Attribute von Mensch und Maschine in seiner Gestalt zu vereinen, sodass er zum Grundmodell einer fortgeschritteneren Serie von Denkmaschinen würde.
Er konnte sich ein Szenario vorstellen, in dem man ihn als gottgleiche Gestalt verehrte. Eine interessante Möglichkeit, die allerdings für ihn – nach all seinen Studien – keinen großen Reiz hatte. Der Irrationalität des Religiösen brachte er weder Geduld noch Verständnis entgegen. Erasmus wünschte persönliche Macht ausschließlich zum Zweck, seine faszinierenden Experimente mit Hrethgir-Versuchsobjekten fortsetzen zu können. Der autonome Roboter hatte nicht vor, seine Maschinenexistenz in absehbarer Zeit zu beenden, und ebenso wenig wollte er es hinnehmen, dass er veraltete und man ihn gegen einen besseren Typ austauschte. Vielmehr war es seine Absicht, sich fortlaufend zu perfektionieren und sich in Richtungen zu entwickeln, die er gegenwärtig noch gar nicht absehen konnte. Er wollte sich einer Evolution unterziehen. Ein sehr organischer Begriff. Ein sehr menschlicher Begriff.
Vor dem Spiegel probierte der Roboter weitere Mienen aus und fand besonderes Vergnügen an einem Gesichtsausdruck, mit dem er wie ein wildes Ungeheuer aussah. Er hatte ihn aus einem uralten menschlichen Text kopiert, in dem imaginäre Dämonen beschrieben wurden. Doch obwohl er diese Fratze als eine seiner glanzvollsten mimischen Leistungen bewertete, blieb sein gesamtes Mienenspiel zu allgemein und zu simpel. Seine Flussmetall-Physiognomie war nicht dazu imstande, irgendwelche zarteren, feineren Emotionen zum Ausdruck zu bringen.
Dann kam ihm ein neuer Gedanke. Vielleicht konnte Rekur Van, nachdem die quasi-reptilischen Wachstumsexperimente vollends gescheitert waren, seine biologischen Fachkenntnisse wenigstens dazu nutzen, ihm zu Verbesserungen zu verhelfen. Dann hätte der arm- und beinlose tluxalanische Gefangene wieder etwas zu tun.
Während Erasmus durch die prunkvolle Villa zu den Anbauten ging, schwirrten überall wachsame Wächteraugen wie gierige Raubinsekten umher. Erfreulicherweise lenkten Musik und Holo-Kunstwerke den autonomen Roboter ab. Schimmernde, flussmetallartige Bilder stilisierter Denkmaschinen-Kriegsschiffe vollführten im Weltall Gefechtsmanöver, und aus dem Hintergrund untermalten Harmonien aus Claude Jozzinys ganz von Maschinen gespielter Metallsymphonie, eines der größten Meisterwerke synthetisierter klassischer Musik, das holografische Geschehen. Mit tiefer Befriedigung schaute sich Erasmus die in verschiedenen Räumen der Villa projizierten Bewegungen simulierter Kriegsschiffe an, deren Waffen feindliche Raumfahrzeuge und Planeten zerstörten. Wäre echter Krieg doch auch so einfach!
Omnius pfuschte weiter peinliche Kunstprojekte zurecht, imitierte Erasmus' Anstrengungen oder die Werke historischer menschlicher Meister. Bislang hatte der primäre Allgeist die Vokabel Nuance überhaupt nicht begriffen. Allerdings war auch Erasmus vielleicht einmal derart unfähig gewesen, bevor Serena Butler ihm behilflich gewesen war, die Unterscheidung der Feinheiten zu erlernen.
Per mentalem Befehl deaktivierte der Roboter die kulturelle Darbietung und betrat unmittelbar darauf den großen Zentralraum des benachbarten Laborgebäudes, wo der gliederlose Rumpf des Tlulaxa – wie immer – in seinem Lebenserhaltungsgestell ruhte.
Überrascht erblickte der Roboter neben dem verstümmelten Menschen den kleinen Yorek Thurr. »Was suchst du hier?«, erkundigte sich Erasmus.
Indigniert rümpfte Thurr die Nase. »Ich wüsste nicht, dass ich eine Erlaubnis brauche, um die Laboratorien zu betreten. Der Zutritt ist mir noch nie verwehrt worden.«
Selbst nach zwanzig Jahren bevorzugte Thurr noch die elegante Kleidung, die er getragen hatte, während er als Despot über Wallach IX herrschte. Seine Garderobe neigte weniger zum Prunkhaften oder Farbenfrohen als in Erasmus' Fall, aber er legte Wert auf edle Stoffe, leuchtende Farben und beeindruckende Accessoires. Heute trug er einen mit Juwelen besetzten Gürtel, einen Goldreif auf dem Kahlkopf und einen langen Zierdolch an der Hüfte, mit dem er nach Lust und Laune schon zahlreiche unglückselige Untertanen abgestochen hatte. Hier auf Corrin gab es noch Millionen menschlicher Gefangener, an denen er sich nach Belieben abreagieren konnte.
»Wir dachten, du wärst in deinen chirurgischen Experimentiersälen beschäftigt«, sagte Rekur Van in hämischem Tonfall. »Um einen lebenden Menschen zu sezieren oder zu versuchen, ihn wieder zusammenzusetzen.« Ruckartig schaute der Tlulaxa mit bösem Blick hinüber zu Vierbein und Vierarm, die in den Nebenräumen langfristige Forschungsprojekte überwachten.
»So vorhersehbar ist mein Verhalten?«, fragte Erasmus. Dann erkannte er, dass Thurr seiner ursprünglichen Frage ausgewichen war. »Du hast mir nicht geantwortet. Zu welchem Zweck hältst du dich in meinen Laboratorien auf?«
Der Mann schenkte ihm ein versöhnliches Lächeln. »Ich möchte Corrin genauso gerne verlassen wie du. Ich will der Liga ihren Scheinsieg entreißen und sie zerschmettern. Vor Jahren sind wir mit der Retrovirus-Epidemie recht erfolgreich gewesen, und vor kurzem haben unsere kleinen Fressmaschinen die Blockade durchbrochen. Inzwischen dürften sie einige Liga-Planeten erreicht haben.« Er rieb sich die Hände. »Rekur Van und ich brennen ungeduldig darauf, etwas Neues anzupacken.«
»Das Gleiche gilt für mich, und aus genau diesem Grund bin ich hier.« Erasmus trat näher. Thurr konnte ihm durchaus eine Hilfe sein, auch wenn sein Geist seit der missratenen Lebensverlängerungsbehandlung nicht immer stabil blieb.
»Du hast eine Idee?« Rekur Van sabberte erwartungsvoll, aber er konnte sich nicht den Mund abwischen.
»Ich habe viele Ideen«, gab der Roboter mit bemerkenswert gut simuliertem Stolz zur Antwort. Menschliche Ungeduld faszinierte ihn, und er überlegte, ob sie möglicherweise mit der endlichen Natur ihres Daseins zusammenhing, dem stets gegenwärtigen Wissen, dass sie für alles Angestrebte nur die Zeit zur Verfügung hatten, die ihnen das Leben ließ.
»Schaut her.« Erasmus demonstrierte eine Vielzahl von Flussmetall-Gesichtsausdrücken: grimmige Mienen aller Art, eine Fratze mit einem künstlichen Maul voller scharfer Metallzähne.
Den Tlulaxa schien diese Vorführung vollkommen ratlos zu machen; Thurr dagegen war offenbar nur verärgert.
Schließlich erklärte Erasmus seine Absicht. »Ich halte diese Gesichter, ja sogar meine gesamte Erscheinung, für unbefriedigend. Glaubt ihr, dass ihr einen lebensechteren Flussmetallprozess konstruieren könnt? Eine ›biologische Maschine‹, die ganz nach ihrem Willen ein unterschiedliches Äußeres annehmen kann? Ich möchte vorspiegeln, ein Mensch zu sein, Menschen zu täuschen, wie einer von ihnen auszusehen, wenn ich es so will. Dann kann ich sie beobachten, ohne erkannt zu werden.«
»Hmmm«, machte der ehemalige Fleischhändler. Er hätte sich wohl am Kopf gekratzt, wären ihm noch Arme verfügbar gewesen. Bewusst verzichtete Erasmus darauf, die Dauer der Verzögerung zu messen, bis er eine Antwort erhielt, anders als ein ungeduldiger Mensch es getan hätte. »Dazu müsste ich imstande sein. Ja, es dürfte ganz amüsant werden, mir damit die Zeit zu vertreiben. Yorek Thurr kann mir für die Experimente das erforderliche genetische Material besorgen ...« Er lächelte. »Schließlich kennt er viele Lieferquellen.«